Immer in meinem Herzen

Und nun stehe ich da. Meine Augen sind glasig und ich habe das Gefühl als würde ich nie wieder
reden können, weil ein dicker Klos in meinem Hals steckt. Mein Atem ist ganz flach.
Und dann kamen die Tränen. Sie liefen mir die Wange hinunter und vielen dann auf den Boden, wo
das Einstreu, das immer aus dem Käfig fiel, sie aufsaugte wie ein trockener Schwamm. Es war mir
jetzt egal wer meine geschwollenen und geröteten Augen sah, wer hörte wie ich laut aufschlurchzte
und wie ich langsam zu Boden sank. Du warst tot. Dieser Gedanke, den ich eigentlich nie wahrnehmen
wollte, schlich sich nun in meinen Kopf,langsam und bedrohlich wie eine Schlange fraß er sich in
mich hinein, immer und immer tiefer. Und ich wollte einfach nicht diesen Schmerz fühlen, der sich
wie ein Dolch in mein Herz schlug, und es zu bluten begann. Du warst tot. Ich spürte wie mir mein
Vater die Hand auf die Schulter legte. Das hatte mich als kleines Kind immer beruhigt. Doch ich war
nicht mehr klein,und ich war auch nicht beruhigt. In einer Sekunde,die so ruhig und still war als
wäre nichts passiert, dachte ich an all die schönen Momente die ich mit dir verbringen durfte.
Ich weiß noch genau,als ich damals von meiner Freundin nach Hause kam, nichtsahnend und müde.
Meine Mutter musste sich als dieses komische Lächeln verkneifen, und sie sagte mir ich solle hoch in
mein Zimmer gehen und mein Bett beziehen.Als ich hoch in mein vetrautes Zimmer kam fand ich
alles so vor wie ich es verlassen hatte.Das Nachtschränkchen, vollgestopft mit kitchigem Krämpel,
mein Bücherregal, voll mit meinen für mich sehr wertvollen Büchern,die ich wie Trophäen sauber
und abgestaubt in einer Reihe in das Regalbrett gestellt hatte. Als ich das Kissen auf meinem Bett
anhob sah ich dort ein Buch liegen,nicht sehr dick,aber es war für mich allessagend.
Es war ein Buch über die Rattenhaltung zu Hause. Ich richtete mich auf und sah in das Regal neber
meinem Bett,auf dem in einem Regalbrett ein kleiner Käfig stand. Er war für meine Hamster
gewesen, da diese aber leider kürzlich verstorben waren war er leer geblieben. An der blauen
Plastikwanne konnte man immernoch die Bissspuren erkennen. Vorsichtig lugte ich zwischen die
ebenfalls angeknabberten Gitterstäbe. Der Käfig war mit frischem Streu ausgelegt, das Futternapf
gefüllt und eine Schlafhütte stand in einer Ecke des Käfigs. Das Heu raschelte, und mein Herz schlug
schneller. Wieder raschelte es. Und da sahen mich deine schwarzen Knopfaugen an. Vorsichtig
trippeltest du bis an die Gitterstäbe, und ich konnte dein schwarz-weißes Fell erkennen. Du warst
noch so klein, und deine rosanen Pfötchen noch ganz weich. Du richtetest dich auf und sahst mir in
die Augen. Nur die dünnen Gitterstäbchen trennten unsere Gesichter von einander. Langsam,
damit ich dich nicht erschreckte, streckte ich den Zeigefinger aus und schob ihn zwischen die
Gitterstäbe. Du bist sofort zusammengezuckt und in dein Häuschen gerannt. Aber ich war geduldig
und wartete, bis du nach ein paar Minuten wieder dein rosanes Näschen aus dem Streu rausschauen
ließt. Meine Augen genau im Blick, liefst du wieder an die Gitterstäbe. Das Blut rauschte in meinen
Ohren und meien Hände waren klebrig von Schweiß. Ich traute meinen Augen kaum:Du richtetest
dich wieder auf und legtest dein kleines, zartes Pfötchen auf meinen Finger. Meine Nackenhaare
stellten sich auf und mein Mund war ganz trocken. Du lecktest mir noch einmal kurz den Finger,
und dann liefst du geschwind zurück in deine Hütte. Noch ein paar Sekunden starrte ich auf
meinen Finger. Er war noch an der Stelle etwas feucht wo die ihn abgeleckt hattest. Und dann
rannte ich die Treppe hinunter in die Küche. Ich fiel meiner Mutter in die Arme und fing an zu
weinen.Weinen vor Freude. Immer waren meine Eltern gegen Ratten gewesen, immer hatten sie
aufgestöhnt wenn ich sie nach den kleinen Nagern fragte. Und jetzt, nachdem meine beiden
Hamster gestorben waren, hatten sie mir endlich die Freude gemacht. Wochen danach beschloss ich
noch eine Ratte dazuzuholen, denn Ratten sind eigentlich Gruppentiere. Und schließlich holte ich
deine Schwester Lotta zu dir. Ich sah zu wie du wuchst, wie sich deine Fellfarbe veränderte, wie du
immer mehr Vertrauen fandest. Wie du traurig warst, wie du dich gefreut hast, wie du mich immer
wieder verzaubern konntest. Wir haben so viel erlebt und so viel durchgemacht. Und jetzt bist du
tot. Nie mehr werde ich dich wiedersehen.Nie mehr werde ich in deine treuen Augen blicken können.
Nie mehr werde ich dein seidiges Fell streicheln können.
Nie mehr.
Als ich heute morgen aufgewacht bin hatte ich ein mulmiges Gefühl und ging nachdenklich in die
Küche. Heute war der 11 September, ein Tag den man nicht vergessen konnte, selbst wenn man
wöllte. Aber trotzdem war es eigentlich ruhig. Ich frühstückte, putzte die Zähne, redete viel mit
meiner Familie und sah fern. Dann ging ich hoch in mein Zimmer und wollte mich ausruhen, als
ich meinen Vater vor dem Käfig stehen sah. Sein Gesichtsausdruck war leer. Ich lächelte erst, denn
ich vermutete das du und Lotta irgendetwas lustiges angestellt hätten, oder wieder eine eurer
komischen Schlafpositionen eingenommen hätten. Doch dann stellte ich mich neben ihn und sah in
den Käfig. Du lagst da, so ruhig und still als würdest du schlafen. Doch deine Flanken regten sich
nicht. Nun sitze ich hier an meinem Schreibtisch und schreibe. Habe ich jemals so schnell
geschrieben? Sie fließen einfach aus meiner Hand in die Füllfeder, die Wörter die ich für dich
schreibe und die ich zu dir legen werde. Wörter, die eigentlich gar nichts bringen, denn für das was
ich für dich empfunden habe, auch wenn du "nur" eine Ratte warst, gibt es keine Wörter.
Wir werden dich dort begraben wo schon die anderen Seelen unserer verstorbenen Freunde die
letzte Ruhe gefunden haben. Im Wald, gleich auf dem Hügel hinter unserem Haus, bei den großen
Felsen. Ich denke das ist ein ehrenvoller Platz. Hoffentlich geht es dir dort gut.
Das hast du schließlich verdient.
Und jetzt werde ich dort hochgehen und dich begraben. Aber in meinem Herzen wirst du immer
lebendig bleiben, denn du lebst weiter.
In meinem Herzen wirst du immer Leben, und irgendwann werden wir uns wiedersehen, nicht
hier in dieser Welt. Sondern dort, wo alles sein Ende findet, und doch alles wieder von neu anfängt.